Die
Schullaufbahnempfehlung – Segen oder Fluch?
Gerd Möller
referierte über das „Sortieren nach dem Aschenputtelprinzip"
Sortieren nach dem Aschenputtelprinzip“
Anfang Mai
ist es wieder soweit – Schüler und Eltern in Bayern warten gebannt auf den
erhobenen Daumen für den Übertritt an eine höhere Schule. Das Übertrittzeugnis
ist ein Damokles-Schwert, welches seit
Beginn der Schulzeit bedrohlich über den Grundschülern und ihren Familien
lastet. Dabei sind diese so genannten Schullaufbahnempfehlungen im Alter von
zehn Jahren keineswegs aussagekräftig für den weiteren schulischen Werdegang
und absolut verfrüht. Aktuelle Studien belegen, dass das gegliederte
Schulsystem extrem sozial selektiv ist und eine enorme Bildungs-Ungerechtigkeit
nach sich zieht. Hier werden künstlich Probleme und unnötiger Stress geschaffen,
welche mit einem ein gliedrigen Schulsystem gar nicht entstehen würden.
Gerd Möller stammt
aus NRW und war viele Jahre
Abteilungsleiter für Bildungsforschung und Bildungsentwicklung. Seine Expertise
machte ihn zum Gegner des gegliederten
Schulsystems. Er arbeitete bis 2006 in der Mathematik-Expertengruppe von PISA,
da er sich dadurch mehr Bildungsgerechtigkeit erhoffte. Während seiner
Vortrages im Rahmen der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Bildung in Bayern
(AfB) konnte er deutlich machen, wie stark Übertrittempfehlungen mit der
sozialen Stellung gekoppelt sind und auf unzähligen, wenig soliden Einflüssen beruhen.
„Wir sortieren viel zu früh und lassen nicht allen Kindern die Möglichkeit
offen, sich später noch zu entwickeln“, so Möller. „Bereits in frühen Jahren
werden sie in eine Schublade gesteckt.“ Die viel beschworene Durchlässigkeit im
dreigliedrigen Schulsystem funktioniert nur nach unten, nach oben sind kaum
überwindliche organisatorische Hürden zu nehmen.
Zieht man
Studien zu Rate, so entscheidet nicht das Wissen und die Fähigkeit, in großem
Maße, sondern die Herkunft. In der Regel müssen Schüler aus bildungsfernen
Familien für gleiche Schulformempfehlungen im Durchschnitt deutlich bessere
Noten vorweisen als Schüler aus bildungsnahen Familien. In seiner Abhandlung
„Sortieren nach dem Aschenputtelprinzip“ befasst sich Möller mit der sozialen
Ungerechtigkeit welches dieses System fördert, sowie mit den Folgen einer
alarmierenden Stressbelastung beim Übergang aus der Grundschule.
Befürworter
des Verfahrens halten die Schullaufbahnempfehlung für sinnvoll, da sie eine
Entwicklungsprognose abgäbe und dadurch verhindert würde, dass ein Kind eine
Schule besucht, in der es womöglich überfordert ist. Andererseits wird der frühe
Übergang häufig als einer der Hauptgründe für die bestehende soziale
Ungleichheit der Bildungsbeteiligung in Deutschland diskutiert. Verschiedene Untersuchungen haben ergeben,
dass vor allem bildungsferne Eltern häufig eine falsche Entscheidung treffen,
wenn es um die Schulkarriere ihrer Kinder geht, indem sie die Fähigkeiten ihres
Kindes unterschätzen. Die Entscheidung trotz einer Empfehlung die Kinder nicht
auf eine höhere Schule zu schicken, ist hier zweieinhalb Mal so groß wie in
bildungsnahen Familien. „Das Abitur macht zwar nicht den Menschen aus, aber es
gibt Optionen und die sollten jedem offen sein“, so Gerd Möller. Durch die
permanente Stressbelastung entsteht darüber hinaus ein hohes Maß an Disharmonie
und Unfrieden in den Familien, was leicht vermieden werden könnte.
In der
Hamburger KESS-Langzeitstudie wurde gezeigt, dass 70 Prozent der Schüler, die zuvor
keine Empfehlung für das Gymnasium hatten, während einer längeren gemeinsame
Schulzeit in der achten Klasse immer noch dort waren. Dies legt den Schluss
nahe, dass Schüler sich in Abhängigkeit zu ihrer besuchten Schulform entwickeln
können. Auch F. Baeriswyl, Ch. Wandeler
und U. Trautwein hegen in der verbindlichen Schulempfehlung ihre Zweifel. Die
Untersuchungen ergeben überwiegend, dass Schulformempfehlungen am Ende der
Grundschulzeit mit sehr hohen Fehlerraten behaftet sind. Zudem befinden sich
die Kinder beim Übergang im Alter von zehn Jahren in einer sensiblen Phase, die
in hohem Maße relevant für ihre Weiterentwicklung ist. Gerade in diesem Alter
verfestigt sich die Zuschreibung an die eigene (vermeintliche oder faktische)
Leistungsfähigkeit und kann sich bei Kindern mit negativen
Leistungsrückmeldungen deutlich lernhemmend auswirken. Es werden so künstlich
psychologische Grundlagen geschaffen, welche den Rest des Lebens im Bewusstsein
verankert sind.
Diese
Sortierung im Alter von zehn Jahren findet man außerhalb des deutschsprachigen
Raumes nirgendwo. Mittlerweile kommen auch die Schweiz und Österreich davon ab.
Während allerdings in den meisten deutschen Bundesländern dieses Übertrittzeugnis
lediglich eine Empfehlung darstellt, ist es in Bayern bindend. Kinder, die im
Zeugnis die Eignung nicht bestätigt bekommen, dürfen zunächst keine weiterführende
Schule besuchen.
Abweichungen
von den Empfehlungen der Grundschule in Bayern lassen sich nur durch den „Probeunterricht“
überwinden. Empirische Studien legen nahe, dass hierdurch erneut vor allem
Eltern aus bildungsschwächeren Schichten daran gehindert werden, ihre Kinder
entgegen der Eignung auf eine höhere Schulform zu schicken. Es stellt sich die
Frage, worauf eigentlich Aussagen wie „Bayern hat das beste Schulsystem,
basieren. In Sachen Bildungsgerechtigkeit rangiert Bayern verschiedenen Studien
zufolge am Ende der Skala. Bildung in Bayern ist nicht gerecht, sondern sehr
stark von der Herkunft und dem sozialen Umfeld abhängig. Es ist eine pädagogische Bankrotterklärung, wenn Bildung
mit dem Sozialstatus zusammenhängt. Mit diesen verbindlichen
Schulformempfehlungen werden Kinder einem noch höheren vermeidbaren und kaum zu
verantwortenden Stress ausgesetzt und zwar viel stärker als bei unverbindlichen
Empfehlungen.
Neben den
Studien, welche die Schulform in Zusammenhang von Leistungsentwicklungen und
sozialer Herkunft der Schüler beleuchten, ist 2015 erstmalig in Deutschland
eine Studie der Universität Würzburg erschienen, welche die Stressbelastung von
Grundschülern während der Übergangsphase erfasst. Während in Hessen mit der
nicht bindenden Übertrittregelung die Schüler in der dritten Klasse 29,8 Prozent
und in der vierten Klasse 25,8 Prozent Stressbelastung aufweisen, liegt die
Prozentzahl in Bayern mit der bindenden Übertrittempfehlung in der dritten Klasse bei 51,7 und in der
vierten Klasse bei 49,7 Prozent.
Allerdings
können sowohl verbindliche als auch unverbindliche Grundschulempfehlungen nicht
verhindern, dass die darauf basierenden Elternentscheidungen erheblich vom
sozialen Hintergrund abhängig sind. Deswegen gilt es, diese unnötige und nichtssagende
Hürde abzuschaffen.
Die
dargestellten Probleme ließen sich auf einfache Weise durch die Zulassung bzw.
Einführung von Gemeinschaftsschulen beheben. Gemeinschaftsschulen bestehen
neben Gymnasium, Realschule und Mittelschule und beinhalten alle Lehrpläne. Baden-Württemberg
macht es vor. In den letzten 5 Jahren sind auf Antrag von Schulen und
Elternschaft 330 Gemeinschaftsschulen entstanden.